Straße der Träume -

Route 96

Aus dem tiefsten Sachsen führte die Fernverkehrsstraße 96 über Berlin zu den weiten Horizonten der Ostseebäder Rügens. Wer seinen Trabi oder seinen Wartburg bestieg, der konnte ein bisschen träumen, von einem anderen Leben, von Freiheit. Dann brach die DDR zusammen, die Bundesrepublik übernahm, aus der F96 wurde die B96. Und wovon träumen die Menschen entlang der Straße heute? Wir finden es heraus - auf unserem einmonatigen Roadtrip über die Route 66 der DDR.

Ausschnitte

Jetzt also mal durchatmen: Ein angenehmer Interviewtermin mit dem ostdeutschen Liedtexter Werner Karma, der Titel schrieb wie "Tage ohne dich", "Die Liebe" oder "Traumtänzer" - ein bisschen Kitsch, ein bisschen Pathos, das wird schon. Wurde nicht.

Werner Karma in seiner Arbeitswohnung in Berlin
Karma in den achziger Jahren

Als wir ankommen, führt Karma uns in sein Wohnzimmer, das so unscheinbar ist, dass mir kein einziges Möbelstück mehr einfällt. Karma trägt Brille, helles Hemd, Jeans. Doch vielleicht hätten mir seine roten Socken zu denken geben sollen, oder die meterlange Bücherwand mit Autoren wie Charles Bukowski, Fjodor Dostojewski und Friedrich Schiller. Aber springen wir aus dem Wohnzimmer erst noch in Karmas früheres Leben. Geboren 1952, meldet er sich nach der Schule zur NVA-Artillerie, fängt aus Langeweile an, Gedichte zu schreiben, hört damit auf, weil er die eigene Schwulstigkeit nicht erträgt, fängt wieder an, als er einen umtriebigen Gitarristen trifft, der Texte braucht. Zusammen gründen sie die Band Karls Enkel und statt Schwulst reimt er das hier:

Noch einmal saufen, was die Kanne hält
Nochmal verschmeißen gutes Bürgergeld
Noch einmal fette Koggen paradieren lassen
Nochmal dem Henker an die Eier fassen
Mit Karmas Texten erreichte die Band Silly Gold- und Platinstatus

Im Kontrast zum SED-verordneten Biedermeier der DDR 1977 kommt das beim Publikum gut an. Karls Enkel rabauken mit dem Programm eine Weile durch die Jugendklubs. Das zweite Programm gewinnt schon den Kunstpreis der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Beim dritten werden sie von der Leitung der Berliner FDJ vorgeladen. Die Nachwuchsorganisation der Staatspartei fühlt sich provoziert, weil Karmas neueste Zeilen auf die Verbrechen des Stalinismus anspielen. Die Staatsführung lässt Texte zensieren und Veranstalter einschüchtern.

Über Karma verfasst die Jugendsekretärin einen kritischen Vermerk: "Es kann nicht eindeutig gesagt werden, daß es in der Gruppe nicht einen Feind gibt. Dabei bin ich mir vor allem über die Rolle von Werner Karma nicht im Klaren." Karls Enkel kann so nicht weitermachen.

Dann trifft Karma die Sängerin Tamara Danz von der Band Silly: er Rockpoet, sie Rockröhre, zusammen Rockfeuerwerk. Und das für fast ein Jahrzehnt, in dem Karma beißende Kritik in Reimform gießt. Schon 1981 ahnt er, dass die DDR zusammenbrechen wird, adressiert an die SED-Führung diese Zeilen:

Dein Cabaret ist tot, Monsieur
Na, laß mich trotzdem rein
Dein Cabaret tut nicht mehr weh
Es geht nur noch ans Portemonnaie
Dein Cabaret ist tot

Dabei findet Karma die DDR prinzipiell gut, was viel mit seiner Familiengeschichte zu tun hat.

Einer seiner Großväter erschoss sich 1933 aus Verzweiflung über die Machtergreifung der Nazis, seine Großmutter wurde in Auschwitz umgebracht, seine Urgroßmutter in Theresienstadt, die große Liebe seines Vaters klebte antifaschistische Plakate und wurde dafür in Plötzensee enthauptet.

Auch Karmas Vater war im Widerstand gegen die Nazis, überlebte die Barbarei, begeisterte sich für die humanistische Idee der DDR und nahm seinen jungen Sohn mit zu propagandistischen Militärparaden, aber Karma braucht nicht überzeugt werden, er brennt schon früh für den Versuch, eine egalitäre Gesellschaft zu erschaffen. Er würde sagen: Das entspricht meinem Gerechtigkeitssinn.

Dennoch weiß er, dass sich die DDR-Führung bei manchen Themen verrennt und Fehler macht. Karma benennt das. Die Zensur schlägt wieder zu. Ganze Alben werden eingestampft. Die Platten, die es auf den Markt schaffen, klettern die Charts empor, Silly wird zur erfolgreichsten Band der DDR und dann Opfer ihres eigenen Erfolgs. Karma erinnert sich so: Nachdem ihr Album "Bataillon dAmour" auch im Westen Erfolg hat, verfällt Sängerin Tamara den materiellen Versuchungen des Kapitalismus und sägt Karma als Songtexter ab. Gleichzeitig zerbricht die DDR, die Mauer fällt. Karma verstummt. Verletzt. Irgendwann schreibt er wieder. Glücklich wird er nicht mehr.

Aber warum?

DDR, das war doch der Staat mit Stasi, Mauer, fehlenden Bananen und stinkenden Trabis, ein Unrechtsstaat, wie es immer heißt. Karma wurde zensiert und wahrscheinlich überwacht und behielt im Gegensatz zu vielen anderen nach der Wende seinen Job: zwei goldene und eine Platinschallplatte zeugen von seinem Erfolg. Er lebt finanziell sorgenfrei. Doch jetzt sitzt er da, nippt an seinem Kaffee und sagt: "Das heutige Deutschland ist traumlos."

Mit dem Satz beginnt ein Gespräch, das einen Gedanken reifen lässt: Vielleicht haben die alten DDR-Bürger durch ihr Leben in Sozialismus, Wende und BRD einen größeren Erfahrungsschatz als die übrigen Bundesbürger, und vielleicht kann man da etwas lernen.

"Vielleicht ist Deutschland traumlos, weil wir heute in traumhaften Verhältnissen leben, politisch frei und wohlhabend?", frage ich.

"Ja, unsere Städte sehen heute schicker aus", sagt Karma. "Die Tankstellen und Baumärkte. Aber das ist ja nur äußerlich. Man muss den Leuten mal in die Seele schauen. Da ist Stress, Angst, Egoismus. Das System spuckt Unmengen von zerstörten Menschen aus. Ich war mal in Trier auf einem Konzert, es war eine meiner ersten Reisen in den Westen. Die lokalen Veranstalter zeigten uns stolz ihre Stadt, und da lagen vor der Kirche Obdachlose auf dem Boden, die ersten, die ich in meinem Leben gesehen habe. Die waren zerlumpt. Dreckige Hände, kaputte Haut, hohlwangig. Und die Reichen stolzierten drum rum und warfen dann mal 50 Pfennig in den Becher. Das gab es in der DDR nicht."

Ja klar, ist widerlich, aber die Stasi zerstörte gezielt Existenzen. Der Film "Das Leben der Anderen" ist doch so ein Beispiel. Was ist also mit dem Überwachungsstaat? "Aber Ihre Texte wurden doch zensiert", sage ich.

"Die Stasi kam im Leben der meisten DDR-Bürger nicht vor", sagt Karma. "So, wie es heute im Fernsehen dargestellt wird, wo immer nur die gleichen Zeitzeugen befragt werden, sieht es aus, als wären wir alle Opfer gewesen. Das stimmt nicht. Die DDR wird nicht objektiv betrachtet."

"Aber sie haben meine Frage nicht richtig beantwortet. Wurden Sie von der Stasi überwacht?"

"Ich hatte mit Tamara eine Vereinbarung: Wir sagen immer genau das, was wir sagen wollen. Wenn Tamara Westgeld brauchte, um Lautsprecher oder Verstärker zu kaufen, hat sie mich angerufen und gesagt: ?Ich brauche 1000 West.? Und ich habe das Geld dann besorgt. Die Stasi hat das sicherlich alles mitgeschrieben und für den Fall, dass sie mich verknacken wollten, hätten sie genug Material gehabt. Genutzt haben sie es nie."

"Sie haben die DDR im Großen und Ganzen gutgeheißen?"

"Es ging um die Qualität des Zusammenlebens. Es ging darum, dass eine auf Egoismus und Privateigentum basierende Gesellschaft in eine altruistische Gesellschaft überführt wird. Es sollte um das Wohl des anderen gehen. Und ich habe selbst noch mitgekriegt, wie das aussehen kann, in den Sechzigern, als ich in der Landwirtschaft gelernt habe. Das waren irgendwie stolze und sanfte Menschen, die an etwas glaubten. Die haben natürlich genauso gesoffen nach der Arbeit und sich geprügelt um eine Frau, wie überall und zu allen Zeiten. Aber die waren auch stolz, wenn sie nach zwölf Stunden vom Mähdrescher gestiegen sind und die Ernte eingebracht hatten."

"Und trotzdem forderten die DDR-Bürger irgendwann Freiheit, weil ihnen offensichtlich etwas fehlte."

"Aber das ist doch nur die Freiheit, Waren zu kaufen. Mit dem Daimler, statt mit dem Trabi durch die Stadt zu fahren. Das waren ja keine tragenden Werte, sondern billige Werte, die die Leute eingefordert haben. Es ging um Konsumption. Das ist wie fressen und scheißen."

"Es ging doch um viel mehr! Auch Sie haben gegen die Mauer und für die Reisefreiheit getextet. Haben Sie also wider besseres Wissen gehandelt?"

"Nicht unbedingt. Ich fand immer, dass man die Leute rauslassen muss. Dann sollen sie sich den Westen angucken und mit der DDR vergleichen. Wenn sie dann wegwollen, sollen sie weg. Aber viele sind zurückgekommen. Die zogen die sichere Existenz im Osten dem risikoreichen Westen vor, weil dort immer die Gefahr bestand, gefeuert zu werden."

"Sie schrieben über die Nachwendezeit: Eine kleine Zeitlang konnte man ein wenig vom Geruch wirklicher Freiheit erschnüffeln. Sie riecht nicht nach Geld, nicht nach Benzin, nicht nach Ficken und nicht nach Banane.? Was meinten Sie damit?"

"Das war diese Übergangszeit zwischen Einsturz der Mauer und der Wahl der CDU-Regierung. Da lag es in der Luft: Jetzt machen wir es richtig, jetzt bringen wir unsere Ideen ein, vielleicht wäre eine bessere Gesellschaft noch möglich. Doch es kam bekanntlich anders. Aus meiner Seminargruppe an der Uni haben sich dann nach der Wende von 20 Leuten zwei umgebracht. Wir sind nicht frei. Wir werden bestimmt von diesem Wirtschaftssystem. Wir müssen uns dem beugen und werden hin- und hergeschubst. Meine Frau hat 20 Jahre bei einem Plattenlabel gearbeitet. Als es aufgekauft wurde, wurden fast alle Mitarbeiter auf die Straße gesetzt. Die Leute werden genommen, benutzt und weggeworfen."

"Vieles von dem, was sie sagen, wird hilflos anachronistisch klingen, wenn ich es aufschreibe."

"Ich bin einer, der nicht lügen kann. Ich guck mir die Welt an und sag, wie ich sie finde. Das hat ziemlich viele Platten verkauft in meinem Leben. Ich weiß, dass es eine große Zahl von Leuten gibt, die das lieben. Das hat ja auch 2010 das Silly-Comebackalbum "Alles Rot" gezeigt. Es wurde 300.000-mal verkauft, was natürlich eine kleine Zahl ist, im Vergleich zu der Mainstreammasse, die auf belanglose Popmusik steht. Aber es gibt diese Leute, die dieses Gesellschaftssystem für genauso hoffnungslos halten wie ich. Und für die kann man es ja machen."

Wir verabschieden uns von Karma und fahren weiter. Ein paar Stunden später schickt er mir eine SMS:

"Hallo Herr Thelen, eine Bitte hätte ich noch. Vielleicht können Sie ja das neue Album von den "Zöllnern" DIRK & DAS GLÜCK erwähnen? Es ist vielleicht mein letztes Album und die Zöllner würden sich freuen. Wenn nicht, geht die Welt aber auch nicht unter. Schöne Grüße... Werner Karma"

Gern geschehen.


Den kompletten Artikel aus dem Spiegel lesen Sie hier

weitere Links zu Werner Karma:

Berliner Zeitung
Deutsche Mugge
spiegel.de